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["Ho-Tschi-Minh-Stadt, zwanzig Jahre zu spaet", in Ho-Tschi-Minh-Stadt, die Stunde Null, edité par Boerries Gallasch, Rowohlt, Hambourg, 1975, p.125-34.

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Ho-Tschi-Minh-Stadt zwanzig Jahre zu spaet

 

Von Serge Thion 1

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Saigon hatte sich nicht sehr veraendert. Ich kehrte jetzt, Anfang Marz 1975 dorthin zuriick, um einige Recherchen durchzufiihren-- fuenf Jahre nach meinem letzten Aufenthalt. Die Freude, diese vertraute Stadt wiederzufinden, vermehrte sich um das etwas beunruhigte Erstaunen, sie so wenig veraendert zu finden. In der Zwischenzeit hatten die Amerikaner ihre Streitkraefte evakuiert, und die Stadt hatte das Aussehen eines befestigten Heerlagers verloren, das ihr die Stacheldrahtverhaue, die elektrischen Generatoren und die Wachtposten verliehen hatten, die das Vorhandensein amerikanischer "Compounds" mitten in der Stadt kennzeichneten. Man sah nicht mehr diese gigantischen GIs in ihren albernen Uniformen, mit einer kleinen Kodak vor dem Bauch, durch die rue Catinat (neuerdings: Strage der Freiheit, Tu Do) ziehen. Die scheusslichen Lastwagen, die, von fetten, schmierigen Flegeln gesteuert, vom Hafen heraufgekommen waren, verbreiteten nun keinen Terror mehr in den Strassen, durch die Zehntausende japanischer Mopeds flitzten, mitunter ganze Familien im Sattel. Auch diese Mopeds waren irgendwie verschwunden. Der Preis fuer das Benzin, das sogar aus Militaerdepots entwendet und von Gassenjungen flaschenweise an der Strassenecke verkauft wurde, hatte die alten Fahrraeder wieder auftauchen lassen.

Der schwindelerregende Preisanstieg hatte der Stadt eine fuenf Jahre zuvor unvorstellbare Nuechternheit aufgepraegt, mit der sich wohl das abzeichnete, was sich heute eingebuergert hat. Sogar gute Buerger, Angestellte und Beamte, gerieten in Verlegenheit: manche hatten ihr Auto "aufgegessen", viele hatten die Zahl der Gaenge bei Tisch verringert, und die Familien waren durch arbeitslose Verwandte angewachsen.

Viel hoffnungsloser hingegen war die Unbeweglichkeit der politischen und militaerischen Situation. Trotz der Pariser Vertraege und des Abzugs der amerikanischen Truppen hielten die gleichen politischen Figuren mit den gleichen finanziellen Tricks ihre Stellung und fuehrten den gleichen Krieg mit Mitteln, die sich immerhin verringert zu haben schienen. Der Flugplatz von Tan Son Nhut wirkte fast veroedet, verglichen mit dem unaufhoerlichen Reigen von Militaermaschinen, die ihn fuenf Jahre zuvor zu einem der zwei oder drei, hinsichtlich der Verkehrsdichte groessten Flughafen der Welt gemacht hatten. Die relative Ruhe, die auf dem Land herrschte, lieg daran denken, die Heftigkeit des Krieges habe in gewissem Mass nachgelassen. Die Besetzung der Provinz Phuoc Long, Anfang des Jahres, mochte wohl als eine Schwaechung der Saigoner Armee gedeutet werden, doch auch als ein Manover Thieus, mit dem er dem amerikanischen Kongress Angst machen und ihn verpflichten wollte, beteutende Kredite zu bewilligen. Phuoc Long war Teil einer nicht weit von Saigon gelegenen Zone, die seit dreissig Jahren eine Bastion der Aufstaendischen gewesen war und die selbst die grossen amerikanischen Operationen der Jahre 1966-67 nicht hatten zerstoeren koennen.

Die Saigoner Administration liess eine gewisse Unruhe erkennen, zwar nicht fur den Augenblick, aber fuer die kommenden Jahre. Die Reserven an Munition und Ausruestung waren noch sehr betrachtlich (groesser jedenfalls als man oeffentlich eingestehen wollte), doch die Preissteigerungen und das Schweigen der amerikanischen Parlamentarier liessen langfristig eine Verringerung der Kredite vorhersehen. Fuer Thieu, der sich nur im Amt halten konnte, indem er an seine Militaers und Polizisten Geld verteilte, war es eine lebenswichtige Frage.

Die Kriegsgegner waren staerker geknebelt denn je. Viele Zeitungen waren verschwunden-- die Saigoner Presse war ohnehin nicht sehr mutig--, und viele meiner Freunde waren ins Gefangnis gewandert. Uebrigens ging es ihnen dort ganz gut, und sie waren, dank der machtigen Organisation der Befreiungsfront, die dort natiirlich auch Fuss gefasst hatte, besser ueber die Geschehnisse im Lande informiert als der Mann auf der Strasse. Die Neutralisten der Dritten Kraft wiederholten hartnaeckig, einzig die umfassende Anwendung der Pariser Vertraege koenne diesem Buergerkrieg ein Ende setzen. Da sich keine klare Veraenderung im Gleichgewicht der Kraefte abzeichnete, war kaum zu erkennen, wie die Situation sich dahin entwickeln sollte. Die amerikanischen Berater hingegen setzten ihre buerokratische Kleinarbeit fort und waren auf allen wichtigen Ebenen der Verwaltungsmaschinerie praesent. Nachdem sie den Grossteil ihrer Archive evakuiert hatten, schienen sie gelassen zu sein und bereit, auf ewig dazubleiben.

Bei meiner Ankunft in Saigon hatte die Schlacht um Ban Me Thuot gerade begonnen. Sie war sogar schon beinah beendet, aber dies wussten wir nicht. Die Aufloesung der Garnison, die von stark dezimierten Kraeften angegriffen worden war, geschah so ploetzlich und so schnell, dass der Generalstab in Saigon etliche Tage verheimlichen konnte, was geschehen war. Nach und nach erfuhr man es: der Sturm war von "Montagnards" gefuhrt worden (eine Information, die Paul Léandri ein "Verhoer" durch die Polizei eintrug). Im Durcheinander, das dem Angriff folgte, wurde der Standortkommandant in dem Augenblick von den Angreifern festgenommen, als er im Begriff stand, einen Hubschrauber zu besteigen, der ihn abzuholen gekommen war. Seine eigenen Soldaten liessen es geschehen, ohne einzuschreiten. Der Helikopter war nicht ihretwegen gekommen... Und mit einem gut vorbereiteten Handstreich erbeutete die Befreiungsfront --zig Lastwagen, Panzerwagen und Artilleriegeschuetze, zwei intakte Helikopter und fuenf Milliarden Piaster. Die Bedeutung dieser sehr kurzen Schlacht ist hervorzuheben, denn zweifellos hat das Schicksal dieses alten Kolonialstaedtchens, das isoliert, inmitten von Kaffeeplantagen im Besitz ehemaliger Soldaten des franzoesischen Expeditionskorps auf dem Hochplateau liegt, die neue Strategie bestimmt, die zum Fall Saigons fuehren sollte

Vielleicht sollte man auch, der historischen Bedeutung wegen die Rolle festhalten, welche die "Montagnards" bei diesem Vorgang spielten. Vertrieben, ausgebombt, als Soeldner rekrutiert, haben die "Montagnards", die nicht vietnamesischer Volkszugehoerigkdt sind, sehr unter dem Krieg gelitten. Ethnologen sprechen, wie ich erfuhr, von 40 bis 50% Verlusten an Menschenleben bei den verschiedenen Staemmen. Die amerikanisshe Politik entsprach dem, was wir heute "Ethnozid" nennen. Manche "Montagnards" wollten autonome Witerstantsgruppen zusammen mit der FULRO (Front Uni de lutte des races opprimées) begruenden, aber die Intrigen der amerikanischen, franzoesischen, khmer- und vietnamesischen Nachrichtendienste fuehrten dazu, dass die letzten Truppen der FULRO sich um 1972 dem Saigoner Regime anschlossen. Die massive Beteiligung von Montagnard-Truppen beim Sturm auf Ban Me Thuot war also Zeichen fuer einen Gesinnungswandel bei dieser vom Krieg aufgeriebenen Volksgruppe. Erinnern wir uns auch daran, dass einige Montagnard-Staemme die ersten waren, die sich 1959 mit der Waffe in der Hant gegen die Diktatur des Ngo Dinh Diem erhoben. So sollte diese geschichtliche Randgruppe den ersten und den letzten Akt der Tragoedie Indochinas einlaeuten...

Versuchen wir mit den bruchstueckhaften Informationen, die wir besitzen, die Ursachen der Entscheidungen Thieus nach Ban Me Thuot zu rekonstruieren, so erhalten wir folgendes Lagebild: die Verkehrsverbindungen auf dem Hochplateau sind bedroht; die strategische Reserve von einigen tausend Mann Kampftruppen kann nicht wirksam eingesetzt werden. Andererseits muessen Treibstoff und Munition gespart werden; zwei Drittel der Luftflotte sind, mangels Wartung, nicht funktionsfaehig. Ueberlassen wir also dem Vietcong die weiten, (beinah) menschenleeren Landstriche der Hochebenen und sichern wir die Verteidigung der reichen, dichtbevoelkerten Kustenebenen. Aber wenn wir den Befehl geben, den Rueckzug vorzubereiten, wird der Vietcong sofort gleichziehen und Hinterhalte anlegen. Geschieht die Rueckzugsbewegung rasch, dann wird die von ihm gestellte Falle sich ins Leere schliessen und unsere intakten Streitkrafte werden das "nuetzliche" Vietnam besser verteidigen koennen

Offenbar wurde ein solches Manoever seit Ende 1974 von manchen amerikanischen Beratern vorgeschlagen. Fur sie stand fest, sass die Hochplateaus, als natuerliche Fortsetzung von Laos und des Ho-Tschi-Minh-Pfads, nur durch ein intensives Bombardement zu halten waren, was die Umstaende jedoch nicht mehr erlaubten. Wir wissen aus sicherer Quelle, dass Thieu dem Kommando der zweiten Militaerregion personlich den Rueckzugsbefehl gab und verlangte, ihn sofort auszufuehren. Jene Mitglieder des Generalstabs, die auf dem laufenden waren, vermieten jeten Anschein, an tieser Entscheidung beteiligt zu sein.

Was folgte gehoert nicht mehr zur militaerischen Strategie, sondern vielmehr, wie man sagen koennte, zur Soziologie der Korruption. Tatsaechlich fuehrte diese, prinzipiell in ihrer Tragweite beschraenkte Massnahme dazu, dass die von den Amerikanern seit 1954 muehselig aufgebaute politisch-militaerische Struktur Stueck um Stueck einstuerzte. Zunaechst fragen wir uns, wo dabei die Armee und ihr Kampfwert blieben.

Nimmt man den Fall eines "normalen" Regiments in einer "normalen" Division so ist erst eimnal festzustellen, dass viele Soldaten abwesend sind. Gegen ein bescheidenes Entgelt und die Einbehaltung ihres Solds zugunsten der Offiziere stellen sie sich jeden Monat bei ihrer Einheit ein, um ihre Vier-Wochen-Urlaubsscheine abzuholen. Im Fall einer Kontrolle gibt es immer eine kleine Zeitspanne, die es ermoeglicht, einen Eilboten mit dem Auftrag loszuschicken, durch die Stadt zu fahren und die Abwesenden fuer die Zeit einer Inspektion zusammenzuholen. Der Soldat lebt im Lager mit seiner Familie, sofern er es nicht vorzieht, fortzugehen, um mit ihr zusammenzuziehen. Hat er Kinder, so bezieht er um die 20.000 Piaster (25 US-Dollar) unt ein General etwa 100.000. Mit dieser Summe muss man auskommen. Der einfache Soldat kann von einem so geringen Sold kaum leben, denn die Preise sind sehr gestiegen. Fuer einen einzigen Sack Reis von 100 kg muesste er seinen ganzen Monatssold ausgeben.

Die Offiziere, die etwas mehr erhalten, haben auch einen etwas luxurioeseren Geschmack, denn sie gehoeren zwangslaeufig zur Bourgeoisie. Um Offizier zu werden, muss man sogar das Abitur haben, das einer ganz beschraenkten EIite vorbehalten ist. In dieser Armee findet man daher kriegserfahrene Truppen mit Unteroffizieren, die manchmal zwanzig oder dreissig Jahre im Felde sind, und die von jungen Stutzern ohne jede Erfahrung kommandiert werden. Seit langem schon haben die Heeres-"Psychologen" der amerikanischen Botschaft festgestellt, dass die F.L.N., ganz einfach unter dem Gesichtspunkt des individuellen sozialen Aufstiegs, den Bauern und den Armen viel groessere Moglichkeiten bietet. Doch sie konnten nie erreichen, dass die herrschende Klasse Vietnams eine, wenn auch nur beschraenkte Erneuerung der militarischen Elite durch die Verleihung von Dienstgraden je nach Faehigkeit akzeptiert haette.

Auh geschieht es haeufig, dass die Soldaten bei Kampfhandlungen Huehner und Reissaecke, Transistoren und Bettdecken usw. an sich bringen, die sie weiter verkaufen, wenn sie dafuer keine Verwendung haben. Die Panzerfahrer sint in der guenstigsten Position, da sie auch sperrigere Gegenstaende Fernsehgeraete, Mopeds usw. transportieren koennen. Hubschrauber, die Truppen abgesetzt haben, kehren nicht leer zurueck. Die Offiziere erheben ihren Zehnten.

Die Artilleristen verkaufen Munitionskaesten, Verpackungsmaterial und die Kupferhuelsen der Geschosse, die sie abfeuern. So ist jede Salve rentabel. Die Piloten wiederum lassen sich fuer gefaehrliche Missionen bezahlen, aber sie sind bemueht, hoch genug zu fliegen, um den SAM-7 auszuweichen. Den Bombardements fehlt es daher an Praezision, und Einheiten, die von armen oder geizigen Offizieren kommandiert werden, laufen Gefahr, Schutz und Unterstuetzung zu verlieren. In diesem Fall wenn sie unbedingt zurueckweichen mussen, vermeiden sie gefaehrliche Zonen und machen dem Kommando per Funk falsche Angaben ueber ihre wirkliche Stellung. Viele Flugzeuge funktionieren nicht, weil Werkzeuge oder einzelne Teile verkauft wurden. Ein andermal ist es der Treibstoff. Man findet ihn beim Strassenhaendler wieder, denn er ist an der Faerbung zu erkennen.

Beim Aufbruch zu Kampfhandlungen laesst der Batallionsfuehrer, der seine Truppen in der Nachhut begleitet, grosse Umsicht walten, sofern nicht ein oertliches stillschweigendes Abkommen mit der anderen Seite besteht, was bei kleinen, etwas isolierten Garnisonen, vor allem im Delta, haeufig der Fall ist. Er muss wissen, dass seine Soldaten nur da sind, weil ihnen nichts anderes uebrigbleibt. Erweist die Lage sich als zu gefaehrlich dann riskiert er, ganz allein auf dem Platz zu bleiben. Doch andererseits muss er scharf rechnen. Wenn ihm bei einem Geplaenkel einige Waffen des Gegners in die Hand fallen, so vermeidet er, sie alle in seinem Rapport zu erwahnen. Besser, man haelt einige zurueck, die man eines Tages melden kann, wenn man es vorzieht, klug zu sein und die Feindberuehrung zu vermeiden. Die Soldaten, die voellig im Bilde sind, wissen diese elementare Weisheit anzuerkennen. Bei den aus abgehaerteten Totschlaegern bestehenden Stosstrupps betrachten die Maenner die Armee eher als Mittel zum Ueberleben. Es kommt sogar vor, dass alte Soldaten sich weigern, aus dem Dienst zu scheiden, so sehr fuerchten sie das Elend, das sie zweifellos im zivilen Leben erwartet. All dies jedoch haengt von einer Bedingung ab: dass die Artillerie und die Bomber einen im Ernstfall schuetzen.

Die Kettenreaktion war folglich sehr einfach: als die Offiziere den Rueckzugsbefehl erhielten, glaubten sie sich in ernster Gefahr und trachteten nur danach, sich mit ihren Familien zu retten. Die Disziplin war zusammengebrochen, die Soldaten bemaechtigten sich der verfuegbaren Transportmittel und brachten ihre Familien darin unter, soweit sie dazu Zeit fanden. Dies sahen die Beamten, die Polizisten, die Haendler, deren Eltern, Vettern, Schwager, und stuerzten sich in Massen auf die Landstrassen. Wir kennen das Weitere-- und die Leiden, die sie unterwegs manchmal ohne Nahrung und ohne Wasser, ertragen mussten. An anderen Orten, in Huê, in Da Nang, an der Kueste verbreitete sich der Zusammenbruch der Disziplin wie ein Steppenbrand. Die Jahre der Korruption hatten das Terrain gut vorbereitet. Die antikommunistische Propaganda ebenfalls: manchen Fluechtling packte wirres Entsetzen bei der Vorstellung, die Kommunisten wuerden jedermann den Hals abschneiden.

Blieb die Verteidigung Saigons. Dorthin warf Thieu seine letzten Reserven, die Stosstruppen, die er vor der Niederlage von Huê abgezogen hatte, um sich gegen einen moeglichen Militaerputsch abzusichern. Es war eine klassische Schlacht. Die nordvietnamesischen Divisionen hatten das Terrain sorgfaeltig vorbereitet, schwere Artillerie zusammengezogen und wussten aeusserst praezise ueber alle Ressourcen und alle Manoever des Gegners Bescheid. In den Generalstaeben der Saigoner Divisionen gab es seit Jahren einige gut placierte Offiziere, die die Befreiungsfront mit Nachrichten versorgten. Einen davon kannte ich gut; er brauchte eine Stunde, um mit dem Moped von Long Thanh herueberzukommen und seine Karten und Dokumente einem als kleine Boutique getarnten Buero zu uebergeben. Ich stelle mir vor, dass eine oder zwei Stunden spaeter ein anderer Moped-Kurier sie an den Empfaenger weiterbefoerderte. Das Spiel war gefaehrlich, aber diese kurzen Abwesenheiten wurden im allgemeinen nicht bemerkt.

Es ist wohl keine zu kuehne Behauptung, wenn man sagt, dag die Befreiungsfront durch die Entwicklung der Ereignisse beinah ebenso ueberrascht war wie die internationale oeffentliche Meinung. Die Direktiven fuer das Jahr 1975, die gegen Ende letzten Jahres in der Befreiungsfront verbreitet wurden, sahen eine Reihe von lokalen Offensiven vor, die zweifellos die militaerische Endphase vorbereiten sollten. Diese Hinweise wurden auch durch politische Kontakte bestaetigt, welche die Front mit gewissen Saigoner Politikern unterhielt und aus denen hervorging, dass nur eine militaerische Initiative die Situation in Bewegung bringen und die, wenn auch nur unilaterale Anwendung der Pariser Vertraege herbeifuehren koenne. Dies ist es uebrigens, was geschah, seitdem ganze Provinzen unter ihre Kontrolle gerieten: nachdem die proamerikanische Rechte verschwunden war, setzte die PRG Komitees ein, die sich aus Militanten der Befreiungsfront, neutralen Persoenlichkeiten und einigen, zur Mitarbeit bereiten, bekannten Persoenlichkeiten der Saigoner Administration zusammensetzten.

Vor Saigon besund folgendes Dilemma: sollte man mit Panzern einfahren und jede Bezugnahme auf die Vertraege und die Bildung einer Dreiparteien-Koalitionsregierung aufgeben, oder aber mit der Waffe bei Fuss warten, bis in der Hauptstadt des Suedens sich eine Regierungsmannschaft bildete, die ernstlich gewillt waere, den Konflikt zu beenden und mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Diese zweite Loesung schien eher der Politik, wie die Befreiungsfront sie seit langem, besonders seit der Veroeffentlichung ihres Programms 1967 verfolgte, sowie auch den besonderen Problemen zu entsprechen, vor denen die Gesellschaft Suedvietnams steht, die weniger einheitlich und fragmentierter ist als die des Zentrums oder des Nordens.

Diese Analyse, die auch ich bis zum letzten Tag vertrat hat sich als falsch erwiesen. Viele politische Koepfe in Vietnam waren ebenfalls ueberrascht und zugleich erleichtert bei dem Gedanken, dass die Schlacht um Saigon nicht stattfaende. Es muss sich also ein Grund fuer die Wahl der militaerischen Loesung finden, und dieser ist, wie ich glaube, in der Geschichte der vietnamesischen Revolutionsbewegung selbst zu suchen. Als Ho Tschi Minh am 2. September 1945 die Unabhaengigkeit Vietnams proklamiert, versucht er mit den schwachen Kraeften, die ihm zur Verfuegung stehen, das Schicksal zu zwingen, oder wie Paul Mus sagt, das "Mandat des Himmels" zu ergreifen, das kein anderer zu erhalten geeignet scheint. Doch die Weltordnung ist so beschaffen, dass alle Grossmaechte wiederkehren und schon bald auf dem indochinesischen Schauplatz aufeinandertreffen.

Der harte Kampf, der im Dezember 1946 ausbricht, fuehrt zu jener halben Loesung, welche die Vertraege von Genf 1954 darstellen. Die vietnamesischen Revolutionaere gewinnen aufgrund des neuen, aus dem Kalten Krieg hervorgegangenen Gleichgewichts der Welt nur ueber die Haelfte ihres Territoriums die Souveranitaet. Heute wissen wir besser welche Pressionen von sowjetischer Seite auf die vietnamesischen Fuehrer ausgeuebt wurden. Diese wiederum empfanden es als notwendig, gewisse soziale Errungenschaften des revolutionaeren Prozesses zu stabilisieren. Auf alle Faelle handelte es sich um eine Etappe mit sehr wichtigen Folgen: der Abzug der Franzosen und ihres Expeditionskorps. Im Prinzip haetten im folgenden Jahr Wahlen stattfinden und zur Wiedervereinigung des Landes fuehren muessen. Die vietnamesische Nation ist eine einzige, selbst in den Augen der eifrigsten Parteigaenger des Westens. Es war um so wahrscheinlicher, dass der Vietminh obsiegen wuerde, wie auch die Amerikaner, die offen das Erbe der Franzosen angetreten hatten, nichts tun wuerden, um diese Wahlen herbeizufuehren, die doch von den Vertraegen die zu unterzeichnen sie schliesslich abgelehnt hatten, vorgesehen waren.

Wir wissen, wie der Krieg seit 1960 nach und nach wieder einsetzte und wie wir, nachdem die Amerikaner eingesehen hatten, dass sie keinen militaerischen Sieg erreichen wuerden, zu den Pariser Vertraegen gelangten. Fuer die Revolutionaere war dies eine weitere Etappe, ein neues Genf wo sie viel staerker sein wuerden und das ein aehnliches Resultat hatte: den Abzug fremder Truppen.

Seit mindestens zehn Jahren zweifelte niemand daran, dass die wichtigste politische Kraft des Landes die Fuehrung der Kommunisten war. Ohne Buergerkrieg haette sie sich durchgesetzt, weil sie sogar in den Augen der Mehrzahl ihrer Gegner, die Legitimitaet der Proklamation von 1945 trug. Ohne auslaendische Einmischung haette sie diese Kraft schon zwanzig Jahre frueher bewiesen. Die Pariser Vertraege sahen eine Art Teilung der politischen Macht-- vielleicht zeitweilig-- zwischen Prokommunisten und Proamerikanern vor, waehrend die Neutralisten im Lande nur eine geringe reale Bedeutung hatten. Vor den Toren Saigons angekommen, mochten die revolutionaeren Fuehrer diese neue Etappe akzeptieren, die auf noch unbestimmte Zeit die politische (und finanzielle) Einmischung einer fremden Macht absegnete, oder sich diese Etappe ersparen, um ans Ziel zu gelangen: die vollkommene und endgueltige Ausschaltung fremder Einfluesse.

Gewig gab es einige Bedenken. Zwei Wochen vor dem Ende wurden verschiedene neutralistische Persoenlichkeiten angesprochen und aufgefordert, sich an der neuen Delegation zu beteiligen, die in La Celle-Saint Cloud mit der Befreiungsfront ueber die Einrichtung einer Koalitionsregierung verhandeln sollte. Militaerischer Druck durfte nicht dazu dienen, die Bewegung zu beschleunigen. Wahrscheinlich war es die bis zur letzten Stunde gewahrte Haltung Thieus, die dieses Kalkuel durchkreuzte. Die Amerikaner zeigten damit, dass sie nicht an Kompromissformeln interessiert waren. Sicher ist aber auch, dass diese Analyse ein Jahr zuvor von der PRG und Hanoi angestellt worden war: die Unredlichkeit der Amerikaner wuerde es verhindern, das Dreiecksspiel zu spielen, und die Koalitionsregierung wuerde aus zwei Komponenten bestehen.

Viele Beobachter stellen sich die Frage, wann die Wiedervereinigung stattfinden wird. Ich glaube, dieses Problem ist ueberholt, weil es durch den Einmarsch der revolutionaeren Kraefte nach Saigon geloest wurde. Gewig gibt es gesellschaftliche Unterschiede zwischen dem Norden und dem Sueden, auch Anpassungsprobleme, aber das Wesentliche ist, dass hinfort ein einziger politischer Wille besteht, um sie zu loesen. Alles uebrige ist nur Formsache.

Vor etlichen Jahren hatte ich, im Anschlug an Gespraeche mit Verantwortlichen der Befreiungsfront, den Eindruck, dass sie nicht die unmittelbare Nachfolge der Amerikaner anzutreten wuenschten. Es erschien ihnen ganz natuerlich, dass es eine Uebergangsphase gaebe, um die ungeheure Masse der Saigoner Armee zu demobilisieren, die oeffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und den Mangel zu beheben, den das Ausbleiben der amerikanischen Hilfe sicherlich hervorrufen wuerde. Die Umstaende haben darueber anders beschlossen, aber eine Phase des Uebergangs bleibt notwendig. Man muss wissen, dass die gesellschaftliche Organisation im Gebiet des Mekong-Deltas, dessen Hauptstadt Saigon ist, sich von der des uebrigen Landes unterscheidet, die lange Zeit durch die zwischen der Dorfgemeinschaft und der Institution des Kaisertums bestehenden komplementaeren Beziehungen gekennzeichnet war. Vietnam ist durch eine langsame, vom Staat streng kontrollierte Bevoelkerungswanderung nach Sueden, in die schmalen Kuestenebenen des Zentrums entstanden. Aber die Kolonisation des von Kambodschanern duenn besiedelten Mekong-Deltas geschah erst kuerzlich (im 18. Jahrhundert) und auf etwas anarchische Art. Dort findet man nicht den ausgepraegten Gemeinschaftssinn-- und den gemeinschaftlichen Landbesitz--, der die Doerfer der alteren Gebiete charakterisiert. Dort breitete sich die Kolonisation auch zuerst aus, wobei sie den Rueckzug der kaiserlichen Administratoren bewirkte. In diesem von den Franzosen "Cochinchina" genannten Landesteil konnte sich der im uebrigen Land unbekannte Grossgrundbesitz entwikkeln. Am Vorabend des 2. Weltkriegs besassen einige Grundbesitzer mehr als tausend Hektar Reisfelder, die von proletarisierten Bauern bestellt wurden. Die viemamesische Bourgeoisie etablierte dort eine Macht, die nur vom Vietminh, und dann, nach 1959, vom Vietcong in Frage gestellt wurde.

Sie versuchte denn auch, nach 1954, auf dem Land wieder Fuss zu fassen unt ist zu einem guten Teil fuer das Wiederaufleben des Konflikts verantwortlich. Sodann stifteten die gewaltigen, von den Amerikanern entfesselten Zerstoerungskraefe Chaos, indem sie Millionen Menschen, die vor dem Krieg und seinen Schrecken flohen, in die Fluechtlingslager und Wellblechstaedte der Hauptstadt draengten. Jahre der ideologischen Bearbeitung von der einen oder anderen Seite haben dazu beigetragen, die Verwirrung der Geister zu steigern, vor allem bei den jungen Generationen, die in eine Welt ohne Bez-uge, ohne Moral, ohne andere Regeln als die des Sichdurchschlagens hineingeboren wurden. Man koennte ganze Buecher fuellen mit beklagenswerten kleinen Geschichten, die vom Verfall der Familie und der Tradition in Vietnam erzaehlen.

Die besten Bewahrer dieser Traditionen, und dies wird nur denjenigen verwundern, der den Vietnamesen nicht begegnet ist, waren und bleiben die Revolutionaere. Diese haben unglaubliche Opfer auf sich genommen, Erschoepfung, Hunger, Trennung von der Familie, alltaeglichen Tod. Sie sind nicht unfehlbar, sie haben Irrtuemer begangen und werden vielleicht weitere begehen, aber sie haben sich den Respekt quasi der gesamten Bevoelkeruhg erworben, selbst wenn viele Menschen weiterhin uneins mit ihnen sind. Wenn das Land durch sie, die so geschickt die Mechanismen der vietnamesischen Gesellschaft zu beobachten und zu nutzen wussten, sich selbst wiederfinden kann, dann ist das Experiment fuer alle, die mit dieser grossartigen Zivilisation Vietnam verbunden sind, zweifellos den Versuch wert. Gewiss fuehrt der sich eroffnende Weg zu einer Form des Kommunismus, ohne dass es schon moeglich ware, dessen Gestalt zu praezisieren. Dies mag man als Glueck oder Unglueck beurteilen. Aber was mich betrifft, der ich Gelegenheit hatte, mit den Vietnarnesen viele Freuden und viele Aengste, ihre Pho-Schalen und auch einige Bomben zu teilen, ich glaube, dass einige Befriedigung in dem Gedanken liegt, dass zum erstenmal seit 112 Jahren, zwei Monaten und achtzehn Tagen der Fremdherrschaft die Viemamesen, indem sie Saigon zurueckeroberten, zu Herren ihres eigenen Schicksals geworden sind.2




1 Serge Thion beobachtete den Vietnam-Krieg für "Monde Diplomatique".

2 Aus dem Französischen von Nils Th. Lindquist .


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