Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

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Neue Pläne für eine Revolte

 

Die Vorbereitungen für unseren ersten Putschversuch liefen drei Monate nach der gescheiterten Skhirat-Revolte an. Sowohl Oufkir wie auch ich hatten mancherlei Pläne ausgearbeitet. Bei einer Autofahrt weihte mich der General in einen seiner Pläne ein. Dieser erschien mir einfach und erfolgversprechend. "Fast jeden Donnerstag kommt Hassan, der ja auch oberster Befehlshaber der Streitkräfte ist, zum Stab, um das Treffen der Korpskommandanten zu leiten. Im Konferenzsaal gibt es einen versiegelten Safe in der Wand. Ich schliesse dort eine MP ein. Wenn Hassan eintrifft, brauche ich nur nach der Waffe zu greifen, um ihn festnehmen zu können. Ich befehle ihm: Hände hoch! Dann halte ich eine improvisierte Ansprache, in der ich seinen sofortigen Rücktritt verlange.ö

Er fertigte eine Skizze an, welche die Beschaffenheit des Saales zeigte und auf der zu sehen war, wo sich der Safe befand und wo die Korpskommandanten und Stabschef sassen. "Sobald Hassan die Abdankungsurkunde unterzeichnet hat, sage ich den Offizieren, ich hätte im Namen des Volkes gehandelt. Ich habe dann ein Tonbandgerät bei mir, auf dem ich ein Kommuniqu‚ abspiele. Dieses wirst du verfassen.

Als nächstes rufe ich General Driss Ben Omar an, den Minister für Post- und Fernmeldewesen, und fordere ihn auf, sich mir zur Verfügung zu stellen. Er willigt bestimmt mit Freuden ein. Auch Hassans Bruder, Prinz Moulay Abdallah, erhält von mir einen Telefon- anruf. Unter irgendeinem Vorwand lasse ich ihn herbeikommen, und dann verhafte ich ihn. Schlussendlich berufe ich die Kommandanten sämtlicher militärischer Einheiten im Gebiet der Hauptstadt ein.

Du wartest währenddessen im Büro neben dem Konferenzsaal auf mich. Ich gebe dir dann ein Zeichen, du fährst mit deiner Panzertruppe so rasch wie möglich zur Radio- und Fernsehstation. Diese stürmst du und sendest darauf das erste revolutionäre Kommuniqu‚, das du auf deinem Tonband bei dir trägst."

 

 

Mit Hilfe eines einfachen, in einem Geschäft in Rabat gekauften Tonbandgeräts nahm ich eine in arabischer Sprache verfasste Deklaration auf, die ich zuvor dem General vorgelegt hatte. Er billigte sie nach einigen geringfügigen nderungen. Auf seinen Wunsch hin hob ich die Worte "Revolution" und "im Dienste des Volkes" besonders hervor. Hier folgen die wichtigsten Abschnitte der Erklärung:

Die Islamische Republik Marokko! Freiheit, politische und wirtschaftliche Demokratie, islamische Einheit!

Im Namen Gottes und des Volkes, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte, im Namen aller Märtyrer, für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und aufgrund dessen Willen, seine Regierungsform selbst zu wählen und selbst über sein Schicksal zu entscheiden, rufen wir eine islamische Republik aus und erklären die Monarchie für abgeschafft, die vom Koran verboten ist!

Wir geben bekannt, dass der Tyrann, Diktator und Narr Hassan von einem provisorischen revolutionären Gericht wegen seiner Verbrechen und Mordtaten gegen unser Volk zum Tode verurteilt und erschossen worden ist. Ein provisorischer Revolutionsrat wird bis auf weiteres das Land regieren, bis ein Revolutionsrat durch direkte, allgemeine Wahlen bestimmt worden ist. Das Heer hat den König entwaffnet, um den Volkswillen zu bewaffnen.

Die Männer, die heute an der Spitze der Revolution stehen, können nicht zaubern, um die Erwartungen des Volkes zu verwirklichen. Wir haben lediglich den König gestürzt. Es ist nun Sache des Volkes, Schluss mit der Unterdrückung und Ausbeutung zu machen, die von Tausenden von kleinen Königen überall im Lande ausgeht. Wir werden unsere Bajonette fortan gegen die Tyrannen richten und nicht gegen das Volk.

 

 

Alles war für den grossen Tag vorbereitet. Es war ein Novemberdonnerstag. Oufkir hatte die Maschinenpistole mitsamt dem Tonbandgerät in den Safe gelegt. Am folgenden Tag setzten wir uns in ein Auto, an dessen Steuer ein Unteroffizier sass. Bei der Stabskaserne stiegen wir aus und nahmen den Gruss der Ehrenwache entgegen. Ich war festentschlossen und voll wilder Begeisterung. Oufkirs Ruhe beeindruckte mich.

Er drückte meine Hand und betrat den Konferenzsaal. Im Büro nebenan wartete ich eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, ich weiss es nicht genau, denn die Zeit kam mir endlos vor. Endlich wurde die Tür geöffnet. Der General trat auf mich zu und sagte mir betrübter Miene: "Es ist nichts mit unserem Plan. Der König hat eben angerufen und ausrichten lassen, dass er nicht kommt.ö

Sieben nervenzermürbende Tage lang warteten wir auf den nächsten Donnerstag. Auch an jenem Tage erschien der Monarch nicht zu dem schicksalhaften Treffen. Wie mir Oufkir mitteilte, hatte der König bestimmt, dass die Versammlungen fortan im königlichen Palast stattfinden sollten. "Dann erledigen wir ihn eben dort", schlug ich vor. öViel zu riskant", wehrte er ab. "Wir müssen einen anderen Plan ausdenken.ö

Kurz vor Jahresende bat Oufkir Hassan, die Kaserne zu besuchen, in der die Sicherheitsbrigade BLS (öBrigade L‚gÜre de S‚curit‚ö) stationiert war. Hassan roch offenbar den Braten und erschien nicht. Ein anderes Mal warteten wir in der Moulay-Ismail-Kaserne vergeblich auf ihn, wo meine eigene Panzerkompanie ihr Zuhause hatte. Es war das Schafsfest, "Aid el Kebir". Wieder eine verpasste Gelegenheit!

Bald darauf entkam Oufkir mit knapper Not einem Helikopterunfall in Agadir. "Hassan hat den Heli mit hundertprozentiger Sicherheit sabotieren lassen", versicherte er mir. In Marokko heisst es, Hubschrauber seien da, um Generäle abstürzen zu lassen.

 

 

 

 

Wir glaubten im März 1972 würden wir unsere Mission erfüllen können. Hassan sollte an einer Konferenz in der Offiziersmesse teilnehmen. Im Konferenzsaal gab es auch einen Filmraum. Dort versteckte Oufkir seine Waffe. Doch der misstrauisch gewordene König kam nie zum Treffen.

Der nächste Versuch wurde anfang Juni 1972 unternommen. An jenem Tage gab Prinz Moulay Abdallah in seiner Sommerresidenz zehn Kilometer nördlich des Skhirat-Palastes einen privaten Empfang. Anlass zur Festlichkeit war seine Ernennung zum "persönlichen Stellvertreter des Königs". Laut Oufkir würde Hassan dem Empfang beiwohnen. An einem Juniabend, um 21 Uhr, rief mich Oufkir an und forderte mich auf, mich in seiner Villa in Souissi einzufinden.

Nach meiner Ankunft teilte er mir mit, der Monarch werde um 22 Uhr in Abdallahs Sommerpalast eintreffen, und zwar ohne eine grössere Anzahl von Leibwächtern. Wir fassten den Beschluss, mitten während des Festes einen Überraschungsangriff zu landen. Unsere Gruppe sollte nur aus vier Personen bestehen: Dem General, mir sowie zwei von Oufkirs Leibwächtern.

Im Gepäckraum des BMW verstaute ich vier Maschinengewehre aus Oufkirs Arsenal, von denen eines mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war, vier Maschinenpistolen, einige Munitionskisten sowie zwei Tarnanzüge und zwei Schirmmützen mit Rangabzeichen (wir waren alle vier in Zivil gekleidet). Die Festteilnehmer waren nicht darüber informiert, dass der König sie mit seinem Besuch beehren wollte.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ein geheimes Militärgericht Hassan II wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen den Islam und das marokkanische Volk zum Tode verurteilt hatte. Gleich zum Beginn des Putsches sollte der König hingerichtet werden; die übrigen Festteilnehmer wollten wir festnehmen. Dann würden wir nach Rabat fahren, wo ich die Operation mit meinen Panzertruppen abschliessen sollte.

 

 

 

Ehe wir Oufkirs Schlafzimmer verliessen, wo wir die letzten Einzelheiten besprochen hatten - es war nun rund 22 Uhr -, küsste der General den Heiligen Koran und erklärte: "Ich tue dies für mein Land." Ich nahm ihm dann der Koran aus der Hand, legte meine Hand darauf und schwor, dass ich bereit war, mein Leben für die Sache Gottes und des Volkes im Kampf gegen Tyrannei, Unrecht und Sklaverei zu opfern.

Als wir zur Residenz des Prinzen in Fallouka gelangten (auf dem Weg zwischen Skhirat und Rabat), erblickten wir zu unserem Schrecken ein rundes Dutzend Polizeiautos vor dem Gebäude. Wenn der König inkognito unterwegs war, wurde er gewöhnlich nicht von einer derart grossen Eskorte begleitet. Das Hauptereignis bei solchen königlichen Vergnügungen besteht darin, dass sich die Gäste mit Wein und Schnaps die Bäuche volllaufen lassen.

Auf der anderen Seite des Palastes war ein Lastwagen mit Soldaten der königlichen Leibwache parkiert. Oufkir, der nicht zu den geladenen Gästen gehörte, ging allein in das Gebäude, um das Terrain zu sondieren. Währenddessen wartete ich draussen. Zwei Stunden später kehrte er zurück. "Es ist technisch unmöglich", teilte er mir niedergeschlagen mit.

Ein weiterer Versuch schlug zwei Wochen später fehl. Er ähnelte dem ersten, der in der Kaserne des Armeestabs hätte stattfinden sollen. Oufkir hatte Hassan gebeten, für die Offiziere einen Vortrag über ömoderne Strategie" zu halten. (Hassan ist nämlich felsenfest davon überzeugt, dass er etwas von Strategie versteht, doch sind die einzigen einschlägigen Schriften, die er ernsthaft studiert hat, Macchiavellis öFürst" und die "Protokolle der Weisen von Zion". Unser König ist nämlich ein glühender Bewunderer Macchiavellis und der Juden.)

Der Vortrag sollte in der Kantine des Armeestabs über die Bühne gehen. Auch diesmal war geplant, dass Oufkir den Monarchen während der Zusammenkunft überrumpeln sollte; im folgenden würde alles so ablaufen, wie wir es beim ersten Versuch geplant hatten. Aus unbekannten Gründen fand sich der König nicht ein.

 

Um der Welt gleich klarzumachen, welche Richtung unsere Revolution verfolgte, hatten wir den Plan geschmiedet, noch am Tage des Putsches den ägyptischen Journalisten Mohamed Heykal einzuladen. Dieser ist ein bekannter Nasser-Anhänger. Zum damaligen Zeitpunkt war er Chefredakteur der Kairoer Zeitung Al-Ahram. Damals war die islamische Erweckungsbewegung noch keine revolutionäre Kraft wie heutzutage. Die damalige Moslembruderschaft stand den Monarchien in Saudiarabien und Marokko näher als den Revolutionären.

Dass Hassan zu den verschiedenen Verabredungen nicht erschien, lag wohl vor allem daran, dass er allzu beschäftigt mit seinem Privatleben war. Seine Hauptinteressen sind Haschisch, Frauen und Golf, was bedeutet, dass er ein vielbeschäftigter Mann ist und leider nicht mehr allzu viel Zeit findet, um sich den lästigen staatspolitischen Pflichten zu widmen.

Sein Tagesprogramm sieht gewöhnlich etwa so aus: Er steigt ca. um 11 Uhr aus dem Bett, fährt zum Golfplatz und spielt bis ca. 12'30 Uhr. Während er sich dem Golfspiel hingibt, laufen ihm Minister und höhere Offiziere nach, damit er allerlei Urkunden unterschreiben kann. Um 16 Uhr empfängt er vor surrenden Fernsehkameras Gäste (er legt allergrössten Wert darauf, tagtäglich am Fernsehen zu erscheinen). Am Abend ist es dann schon wieder höchste Zeit für Nutten und Hasch. Diesen Freuden widmet er sich bis tief, tief in die Nacht hinein.

Vor dem Gipfeltreffen der Organisation für afrikanische Einheit, die 1972 in Rabat abgehalten wurde, liess der König sämtliche Heeres- einheiten in Alarmbereitschaft versetzen. Nicht einmal die Offiziere bekamen Urlaub. Ich schlug Oufkir vor, wir sollten am 10. Juli, dem Geburtstag Hassans, einen neuen Putschversuch unternehmen, also genau ein Jahr nach der Skhirat-Revolte. Im Skhirat-Palast würde dann mit grossem Pomp eine Zeremonie stattfinden, zu der die üblichen Gäste eingeladen waren. Der General verwarf meinen Plan, aber ich begab mich auf eigene Faust zum Palast, um der schandbaren Geburtstagsfeier beizuwohnen.

 

 

Zum zweiten Male befand ich mich im Palast in Gegenwart des Menschenschinders und sah mir sein Gesicht an, auf dem tausend Laster ihre Spuren hinterlassen hatten. Als Cowboy ausstaffiert, schäkerte er mit seinen katzenbuckelnden Gästen. Zum Auftakt forderte er sie in französischer Sprache auf, zum Gedenken an die Opfer im vergangenen Jahr am gleicher Stelle verübten Verrats einige Schweigeminuten einzuschalten.

Am folgenden Abend lud der König Oufkir zu einem Empfang ein, der die Bezeichnung "Nacht der Frauen" trug. Nach seiner Rückkehr erzählte der General zutiefst angewidert, dass Hassan sternhagelvoll gewesen war. Er hatte allen anwesenden Frauen die Hand geküsst und ihnen dann eine Handvoll Juwelen hingeworfen. Die hohen Damen, Ehegattinnen oder Geliebte der Minister und höheren Beamten, hatten sich darauf gestürzt und sich um die kostbaren Steine gebalgt. Hassan war so besoffen und dazu mit Drogen vollgepumpt, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Zwei Leibwächter stützten ihn die ganze Zeit über, wobei sie unablässig schnarrten: "Lange lebe Amir al- Mouminen" (öder heilige Führer der Gläubigenö).

Während eines Mittagessens im Hause Oufkirs wurden die letzten Einzelheiten des Plans zum Sturz König Hassans des Zweiten ausgearbeitet. Am nächsten Tag sollte der Monarch zur Abdankung gezwungen oder, im Falle einer Weigerung, von einem revolutionären Geheimtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Nun, beim Mittagessen, wurde es endgültig beschlossen: Der darauffolgende Tag, der 16. August 1972, sollte der letzte Tag sein, an dem Marokko von einem Mann beherrscht wurde, den beide Tischgäste als Despoten und Tyrannen betrachteten und von Herzen verabscheuten.

Ein Jahr heimlicher Überlegungen und genauer Planung war ver- gangen. Der Zeitpunkt zum Sturz des Gewaltherrschers war da. Die beiden Männer am Tisch waren sich über alle Details des bevor- stehenden Staatsstreichs einig; die Untergrundarbeit des verflossenen Jahres hatte uns zusammengeschweisst. Wir vertrauten einander so sehr, wie zwei Menschen einander in einer Situation vertrauen können, in der sie beide Gefahr laufen, durch Irrtum oder Verrat zu scheitern und unter langen Folterqualen zu sterben.

Unser Ziel war dasselbe, zumindest kurzfristig: den König zu stürzen. Doch so sehr ich auch die taktischen Vorteile einer Zusammenarbeit begriff, war ich mir stets im klaren darüber, dass wir eigentlich zwei grundverschiedene Menschen waren, und es ist schwer vorstellbar, wie unsere Zusammenarbeit auch nur die ersten Stunden des Triumphs nach einer geglückten Revolution hätte überleben können.

Die Luxusvilla, in der wir beim Mahle sassen, lag im vornehmen Viertel Souissi am Rand der Haupstadt Rabat. Gastgeber war General Mohamed Oufkir, Verteidigungsminister und Armeechef, nächst dem König der mächtigste Mann Marokkos. General Oufkir war 52 Jahre alt, der Abstammung nach Berber und im Dorf Ain Chair in der Nähe von Ksar-Souk im Hohen Atlasgebirge geboren, wo sein Vater Stammeshäuptling gewesen war.

Ich, sein Gast, war ein junger Panzerleutnant, der ungefähr 25 Jahre zählte. Mein genaues Alter ist mir nicht bekannt, weil in dem kleinen Berberdorf in Südmarokko, wo ich das Licht der Welt erblickte, keine Geburtsregister geführt wurden. Einige Jahre zuvor war ich zum engsten Mitarbeiter des Generals sowie zu seinem persönlichen Adjutanten ernannt worden, was zur Folge hatte, dass mein Einfluss weit grösser war, als mein niedriger Offiziersrang erahnen liess.

An diesem schicksalshaften Tag waren wir beide gezwungen, einander zu vertrauen, da wir uns zur Zusammenarbeit bei einem Unternehmen entschieden hatten, das uns beide das Leben kosten konnte, falls es vorzeitig aufgedeckt wurde. Und dennoch: noch ein gutes Jahr zuvor war General Oufkir der Mensch gewesen, den ich, vom König selbst abgesehen, am meisten von allen verabscheute.

Damals stand Oufkir für all das, was mir am stärksten zuwider war: Willkürherrschaft, Despotismus, Unterdrückung, Korruption und ganz besonders Unmoral. Der General deckte ein System, welches allen fundamentalen Werten des islamischen Glaubens zuwiderlief, denn diese sprechen nicht von Königen oder Fürsten, sondern von Menschen gleichen Ranges.

 

 

Der General stand an der Spitze eines Heeres, das nicht dort eingesetzt wurde, wo es meiner Überzeugung nach hätte eingesetzt werden müssen, nämlich im Kampf für die Einigung der Muselmanen und Araber, für die Rechte der Palästinenser und gegen den Okkupanten- staat Israel.

Nein, die Streitkräfte wurden in Marokko zurückgehalten, um Ungerechtigkeit und Stagnation zu schützen, um auch den geringsten Ansatz zu einem Volksprotest gegen die sozialen Missstände abzuwürgen, die man doch buchstäblich mit Händen greifen konnte, wenn man sich nur die Mühe nahm, sich einige hundert Meter vom Königspalast zu entfernen und den entsetzlichen Slum in Chella zu betreten, der in einem Tal gleich unterhalb der Palastmauern lag, oder seine Füsse ins Slumquartier Jaacob el Mansour unten beim Strand zu setzen, wo 35'000 Menschen bloss einige Kilometer vom Luxusviertel entfernt zu überleben versuchen.

Ja, die Ungerechtigkeiten waren für jeden ersichtlich, der sie sehen wollte. Menschen lebten in tiefster Erniedrigung und ohne Hoffnung. Sie sahen dem morgigen Tag mit Bangen entgegen; ihre Existenz konnte urplötzlich ein Ende nehmen, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen, und nichts würde dann darauf hindeuten, dass hier ein Mensch gelebt und geatmet und auf eine gerechtere, sorgenfreie Welt zu hoffen gewagt hatte. Das Dasein dieser Menschen glich einem flackernden Licht, das jäh erlöschen konnte, weil die Schergen des Königs sie aufgespürt und dafür zur Verantwortung gezogen hatten, dass sie es wagten, ein besseres Leben zu fordern.

Seitdem ich als Student in der Mitte der sechziger Jahre politisch bewusst geworden war, hatte ich Oufkir verabscheut, bekämpft und gefürchtet. Er war zuerst Polizeichef und dann Innenminister. 1965 stand er an der Spitze der Truppen, die eine spontane Revolte für Menschenrechte, für mehr Brot und vielleicht auch für ein wenig mehr Freiheit niederschlugen. Ich selbst wurde damals festgenommen und als einer der Rädelsführer gefoltert.

 

 

Nun sass ich am 15. August 1972 demselben Oufkir am Mittagstische gegenüber und besprach die letzten Einzelheiten eines Plans, um mit der Tyrannei Schluss zu machen, die der General selbst mitgetragen hatte. Oufkir hatte sich geändert, nicht ich.

Wir waren jetzt Partner in einem Unterfangen, das für uns mit Marter und Tod enden konnte. Binnen vierundzwanzig Stunden konnte jeder von uns beiden tot sein. Sollte unserem Wagnis aber Erfolg beschieden sein, so würden wir unweigerlich wieder zu Gegnern werden. Allzu verschieden war unser Hintergrund, unsere Erfahrung, unsere ideologische Überzeugung und unsere Auffassung von Gerechtigkeit. Oufkir war ein Mann der Vergangenheit. Ich verkörperte die Zukunft.

Ich war bereit, mich mit dem Leibhaftigen selbst zu verbünden, wenn dies zum Sturz des Tyrannenregimes in Marokko führen konnte, dachte ich später. Während des Tischgesprächs konnten wir einen unklaren Punkt in unserem Plan beilegen. Der König hatte mitteilen lassen, er werde am nächsten Tag mit dem Flugzeug von Frankreich nach Marokko zurückkehren. Im Verlauf des Vormittags hatte Oufkir diese Nachricht vernommen.

Der Reserveplan, der darin bestanden hatte, das Schiff des Monarchen zu überfallen, konnte somit ad acta gelegt werden. Die Verwantwortung lag nun bei der Luftwaffe. Drei Kampfflugzeuge sollten in dem Augenblick, wo sich König Hassans Boeing 727 der marokkanischen Küste näherte, auf diese zufliegen, scheinbar als Begleitflugzeuge, doch der Befehl der Piloten lautete dahin, das Flugzeug des Königs zur Landung auf dem Militärflugplatz in Kenitra zu zwingen. Dort sollten die aufständischen Truppen über das Geschick des Herrschers entscheiden. Zum Abschluss des Mittagessens zitierten wir nach altem Ritus dies Sure Al Fatiha aus dem Koran.

Um sechs Uhr früh fielen am 16. August 1972 die ersten Sonnenstrahlen auf die 13 Jäger, welche auf dem Mililtärflugplatz von Kenitra, drei Meilen nördlich der Hauptstadt Rabat, stationiert waren. Es war ein idealer Tag zum Fliegen.

 

Bei den Maschinen handelte es sich um amerikanische Flugzeuge des Typs Northrop F 5. Sie waren fast alle Jäger, die der marokkanischen Luftwaffe zur Verfügung standen. Bewaffnet waren sie mit unbeweglichen Kanonen. Bei Angriffen auf Bodenziele waren diese eine erstklassige Waffe, doch zur Bekämpfung von Luftzielen eigneten sie sich bedeutend weniger.

Unter dem gesamten Personal des Luftstützpunkts, inklusive den 450 Amerikanern im US- Sektor, denen unter anderem die Ausbildung der marokkanischen Piloten anvertraut war, gab es nur einen einzigen Mann, der vom bevorstehenden Staatsstreich wusste. Dieser Mann war Major Kouera, Leiter des marokkanischen Stützpunktsektors.

Am Vorabend hatten Kouera und einer seiner Vorgesetzten, Vizeluftwaffenkommandant Mohamed Amkrane, General Oufkir in einer Bar in Casablanca getroffen und die letzten Instruktionen erhalten, die ich mit Oufkir zusammen ausgearbeitet hatte. Sowohl Kouera als auch Amkrane waren in Rif geboren, einer ärmlichen Berggegend in Nordmarokko.

Beide waren Berber und hatten keinesfalls vergessen, mit welcher Brutalität der damalige Kronprinz und Armeechef und heutige König im Jahre 1958 einen Aufstandsversuch der dortigen Bevölkerung unterdrückt hatte. Es war die letzte von vielen Revolten gegen die neokolonialistische Zentralmacht, die von Rif ausgegangen war. Es hatte keiner sonderlichen Überredungskunst bedurft, um die beiden für die Widerstandsbewegung der "Freien Offiziere" zu gewinnen.

Bereits im April hatte Amkrane vom Plan der "Operation Überfliegen" erfahren. Er hatte Oufkir dann mitgeteilt, wegen seiner schlimmer werdenden Nierenkrankheit könne er keinen F 5 fliegen. Als Stellvertreter hatte er den Kommandanten des Luftwaffenstützpunkts Kenitra, Major Kouera, vorgeschlagen.

 

 

 

 

Am 15. August, also dem Tag vor dem Putsch, trafen sich alle drei bei Madame Lazrak, der Gattin eines ehemaligen Finanzministers. Oufkir hatte die letzten Einzelheiten des Plans enthüllt und hinzugefügt, dessen Gelingen sei hundertfünfzig-prozentig sicher. Sollte trotzdem irgendetwas schiefgehen, so würde sich Oufkir auf dem Flugplatz von Rabat-Sal‚ befinden und selbst den Befehl über die dortigen Truppen übernehmen.

Zwei andere auf der Luftbasis stationierte Militärs, Hauptmann Lhjad Larabi und Leutnant Hassan Midawi, wussten an jenem schicksalhaften Morgen des 16. August noch nicht, dass sie dazu auserkoren waren, die beiden anderen Eskortflugzeuge zu steuern.

Aus Sicherheits-erwägungen und zur strikten Wahrung des Geheim- nisses hatten Oukfir und ich beschlossen, dass nur die unmittelbar bei der Operation Beteiligten in den Plan eingeweiht werden sollten. Ausser Oufkir und mir kannten lediglich Amkrane und Kouera die "Operation Überfliegen".

General Oufkir tat während der Nacht vom 15. auf den 16. August kein Auge zu. Er blieb bis zum Morgengrauen auf und fuhr dann, ohne jemandem ein Wort zu sagen, nach Temara, unmittelbar südlich von Rabat. Gegen elf Uhr kehrte er in seine Villa in Souissi zurück.

Er hatte zusammen mit Vizeluftwaffenkommandant Amkrane Oberst Lyoussi getroffen, den Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte. Oberst Lyoussi hatte sich dazu überreden lassen, drei F-5-Maschinen auszusenden, die den König bei seiner Heimkehr nach Marokko eskortieren sollten.

Auf König Hassans Schloss nahe der Stadt Beauvais, acht Meilen nördlich von Paris, traf man an jenem Morgen Vorbereitungen für die Rückkehr nach Marokko. Der Monarch hatte im Rahmen eines Privatbesuchs drei Wochen auf jenem Schlosse zugebracht.

 

 

 

 

In seiner Gesellschaft befand sich unter anderem auch Oberst Ahmed Dlimi, Kommandant der königlichen Adjutanten und ehemals höchster Polizeichef. Unter Einbeziehung der Hofschranzen, Konkubinen, Regierungsmitglieder und Leibwachen - letztere wurden von einem französischen Söldner, Kommissar Sassia, kommandiert - waren es rund hundert Personen, die nun, wo die Sommerferien zu Ende waren, mit dem König nach Marokko zurückfliegen sollten.

An jenem Tage stieg ich wie gewöhnlich um sechs Uhr auf und nahm mein Frühstück zu mir. Den General sah ich am Morgen nicht. Nach dem Frühstück fuhr ich in meinem Fiat zur Verlegung. Auf dem Hintersitz lag meine grüne Felduniform, die ich dann in der Verlegung anziehen würde. Ich dachte daran, was der General gesagt hatte, als er mich um halb vier weckte. Er war gerade von Casablanca zurückgekommen, wo er mit Amkrane und Kouera in einer Bar auf der Avenue Hassan II. ein letztes Gespräch geführt hatte.

öNun liegt alles in Gottes Händen", hatte der General gesagt. "Alles ist wohl vorbereitet, und die Lage sieht gut aus." Er wollte noch ein letztes Mal die Tonbandaufnahme unseres Kommuniqu‚s hören, welches ich entworfen hatte und dass wir nach dem geglückten Staatsstreich am Rundfunk verlesen wollten.

Ich empfand seltsamerweise weder Nervosität noch Angst, sondern fühlte mich glücklich. Mein ganzes Leben lang hatte ich auf diesen Tag gewartet, an dem ich mich am Sturz des Tyrannenregiments in Marokko beteiligen würde. Deshalb war ich von Begeisterung erfüllt, aber äusserlich ganz ruhig und kühl.

Die Möglichkeit eines Scheiterns zog ich gar nicht erst in Betracht. Es schien sich von selbst zu verstehen, dass alles nach Plan verlaufen würde. Die Aussicht, selbst dabei mitzuwirken, wie der Lauf der Geschichte in meinem eigenen Land verändert wurde, erfüllte mich mit einem phantastischen Gefühl, und ich war dem Schicksal dankbar, dass es mir diese Rolle zuteil werden liess. Freudig nahm ich da alle Risiken auf mich, um mein Land von der Herrschaft der Schurken zu befreien, die es unterjocht hielten.

 

Während der Morgenstunden prüfte ich nach, über wieviel Munition meine aus 17 Panzerfahrzeugen des Typs EBR bestehende Einheit verfügte. Ich erteilte ferner meinem Adjutanten die Anweisung, Mannschaft, Material und Waffen zu inspizieren. Dabei bemühte ich mich, das Ganze wie eine reine Routineangelegenheit aussehen zu lassen. Bis zum Mittagessen mit Oufkir passierte dann nichts Besonderes mehr.

Als wir um zwei Uhr bei Tische sassen, einigten wir uns darauf, dass ich wie geplant zur Kaserne zurückkehren und mich dort mit meinen Fahrzeugen bereithalten sollte. Der General sollte zum Flugplatz in Sal‚ ungefähr 15 km nördlich von Rabat aufbrechen. Er sollte sich direkt zum Kontrollturm begeben und dort abwarten, bis der Funkkontakt mit der Boeing des Königs hergestellt werden konnte.

Sobald er die Nachricht erhielt, dass die erste Phase der Operation erfolgreich abgeschlossen war, sollte er mich in der Kaserne Moulay Ismail aufsuchen, die gleichfalls dem Panzerstab der Armee unterstand. Dort sollte der Auftakt zum Putsch erfolgen. Sobald Oufkir bei mir eingetroffen war, sollte ich das Kommando über die Kaserne übernehmen und den Befehlshaber der Panzerstreitkräfte, Oberst Hatimi, verhaften, wenn dieser in die Kaserne kam. Seine Festnahme sollte keine Schwierigkeiten aufwerfen.

Es gab noch andere "Freie Offiziere", die von anderen Städten eintreffen würden, um uns zu helfen, und ich würde ihnen mitteilen, wer alles zu verhaften war. Angesichts der Stimmung in der Armee und im Volk rechneten wir damit, dass sich jedermann der Revolte anschliessen würde, sobald irgendjemand den Anfang gemacht hatte. Unser Stützpunkt sollte die auslösende Rolle spielen. War der König erst aus dem Wege geräumt, so war mit keinem ernsthaften Widerstand mehr zu rechnen. Oufkir war ja zumindest auf dem Papier Oberkommandierender sämtlicher Streitkräfte, und er stand auf unserer Seite.

 

 

 

 

Nach einem Jahr als Verteidigungsminister war Oufkir unter jungen Offizieren recht beliebt geworden. Ich sollte die führenden Offiziere in der Kaserne Moulay Ismail festnehmen und anschliessend den Befehl über die anderen 40 Tanks und l'000 Mann sowie 20 "Freien Offiziere" übernehmen, die von anderen Einheiten zu uns stossen sollten. Unserem Plan zufolge sollte Oufkir den Alarmzustand für alle Heereseinheiten einschliesslich den in der Hauptstadt stationierten ausrufen.

Gleich nachdem ich nach dem Mittagessen wieder in die Kaserne zurückgekehrt war, trafen die ersten Anweisungen ein, und ich konnte nun den Befehl zur Ausrüstung der Panzer mit Kampfmunition erteilen, ohne dass dies jemandem auffiel. Um 14'30 Uhr traf der Befehl vom Hauptquartier ein. Ehe Oufkir dieses verliess, um zum Flugplatz hinauszufahren, rief er den Panzerkommandanten Oberst Hatimi an und beorderte ihn zum Flugplatz, wo wir alle führenden Persönlichkeiten und Minister zur Begrüssung des Königs versammeln wollten, um sie dann allesamt zu verhaften, sobald der König selbst in unserer Gewalt war.

Ich plauderte mit einigen Offizieren und scherzte mit ihnen über den Skhirat-Putsch. Alles sollte einen ganz normalen, routinemässigen Eindruck hinterlassen, und doch empfand ich das nagende Gefühl, irgendetwas würde schiefgehen. Ich war nicht besonders glücklich über die Entscheidung, die drei Piloten loszuschicken. Wer konnte denn ausschliessen, dass der König während des Fluges durch Funkkontakt Wind von der ganzen Sache bekommen und dann den Befehl erteilen würde, das Flugzeug solle anderswo landen?

öIch weiss eine bessere Lösung", sagte ich zu Oufkir, während wir beim Mittagsmahle sassen. "Wir lassen den König unbehindert auf dem Flughafen Rabat-Sal‚ landen, den ich dann schon mit meiner Panzereinheit umstellt habe. Dann nehme ich ihn selbst auf dem Flughafen fest, zusammen mit allen Ministern und hohen Offizieren, die auf ihn warten. Wir sperren sie in eine Flugzeughalle ein, bis wir die Lage im Griff haben. Alle können die Verhaftung des Königs miterleben, und dann werden sie begreifen, dass seine Macht gebrochen ist.ö

Oufkir lehnte diesen Vorschlag ab. Falls die drei Piloten die Maschine des Königs nicht zum Landen zwingen könnten, würden sie sie eben abschiessen, meinte er. "Es besteht nicht die geringste Gefahr des Scheiterns. Unser Plan ist hundertfünfzigprozentrig sicher", sagte Oufkir. Dies waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte, ehe ich zur Kaserne Moulay Ismail losfuhr. Ich sass in meinem Panzer und wartete ab 15'00 Uhr auf die erwartete Nachricht.

Im Kontrollraum der Luftwaffenbasis von Kenitra stand zur gleichen Stunde der Vizeluftwaffenchef, Oberstleutnant Mohamed Amkrane, dem eine Gruppe von Offizieren unterstellt waren. Vom Kontrollturm aus konnten sie hören, was im Luftraum zwischen Kenitra und dem Mittelmeer ablief. Major Kouera und zwei andere junge Offiziere waren bereits losgeflogen, um die Boeing des Königs bei ihrem Heimflug zu treffen.

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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