Ein Leben für Freiheit
Eine Selbstbiographie

Ahmed Rami

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Die Flucht

 

Mir war nun klar, dass ich keine Minute zu verlieren hatte. Sie hatten ja die Kassette und wussten alles. Sie war nicht im Auto; ich hatte dort selbst gesucht. Sie befand sich, wie ich sicher wusste in der Tasche des Generals. In meinem Zimmer in der Kaserne gab es einige Geheimpapiere, die andere Offiziere, meine Freunde, kompromittieren konnten.

Aus diesem Grunde fuhr ich zur Kaserne und betrat diese auf dem gleichen Wege, auf dem ich sie verlassen hatte. Gerade als ich im Begriff war, meine Paiere zu verbrennen, kreuzte der Panzerchef auf und teilte mir mit, der Bereitschaftsgrad sei gesenkt worden. Ich solle meine Leute anweisen, ihre Waffen abzugeben, und ihnen dann 48 Stunden Urlaub genehmigen.

Ich sagte meinem Adjutanten, meine Kompanie solle von niemandem Befehle entgegennehmen aussser von mir, und sie sollten auf meine Anweisungen warten. Dann verbrannte ich die Papiere im Waschbecken. Als nächstes erteilte ich meinem Adjutanten den Befehl, die Soldaten zu inspizieren und ihre Waffen einzusammeln. Ich müsse mal auf die Toilette, werde aber gleich zur Inspektion zurück sein. Von der Toilette führte der Ausgang Richtung Krankenhaus. Dort stand ein Wachposten. Ich schnauzte ihn gehörig an und erteilte ihm eine Mohrenwäsche wegen mangelnder Aufmerksamkeit. Er sollte glauben, ich sei auf Inspektionstour.

Sobald ich die Kaserne verlassen hatte, fuhr ich zu meiner französischen Freundin. Ich hatte kein Geld bei mir und musste mir deshalb einen kleinen Betrag von ihr ausleihen. Wir verabschiedeten uns, und dann fuhr ich mit meinem Wagen zu einer Garage ausserhalb der Stadt. Dort tauschte ich meine Uniform gegen Badehosen, Jeans und Pullover. Auch meine Pistole und alle Papiere, die Aufschluss über meine Identität vermittelten, liess ich zurück.

Viel später sollte ich erfahren, dass die Polizei meiner Freundin einen unwillkommenen Besuch abgestattet und dort tagelang bis an die Zähne bewaffnet auf mich gelauert hatte. Sie hofften wohl, ich würde später dort auftauchen. 104 Meine Freundin wurde festgenommen und verhört, doch nach Intervention des französischen Botschafters liess man sie frei. Sie war nicht in meine Pläne eingeweiht gewesen, und die Polizisten mussten sie laufen lassen. Vorderhand durfte sie aber das Land nicht verlassen. Sie glaubte lange Zeit, ich sei tot. Nachdem ich die Garage verlassen hatte, nahm ich ein Taxi und fuhr in ein Slumviertel namens Yakoub-el- Mansour. Dies war die erste Etappe meiner Flucht.

Ich wanderte südwärts dem Strand entlang, weg von der Hauptstadt. Der Strand war voll von gutgelaunten Badegästen. Sie kümmerten sich nicht im mindesten um die Geschehnisse des vergangenen Tages, sondern tollten im Sand herum und kühlten sich in den Wellen. Nur mit Badehosen bekleidet, ging ich immer weiter nach Süden. In der Hand hielt ich meine Jeans und einen Pullover. Das war alles, was ich auf meiner Flucht bei mir hatte. Alles andere liess ich hinter mir zurück: meine Arbeit, meinen Lohn, meine Wohnung, mein Auto und meine grosse Bibliothek, nicht aber meine kühnen Träume von einer menschenwürdigeren Zukunft und einer besseren Welt.

Doch vergass ich ob dieser Träume auch die praktischen Probleme nicht, denen ich mich nun gegenübersah. Den ganzen Tag lang ging ich dem Strand entlang und wich allen grossen Strassen so gut es ging aus. Polizei und Militär hatten bestimmt überall Strassensperren errichtet.

Mein erster Gedanke war, nach Süden in die Sahara zu flüchten. Dort konnte ich vielleicht bei den Beduinen leben, bis sich die Lage entspannt hatte. Ich erinnerte mich an die Beduinen aus der Sahara, die an meinem Heimatdorf vorbeiwanderten. Mein Vater anerbot ihnen, sie dürften die von den in die Städte abgewanderten Dorfbewohnern verlassenen Häuser und cker ohne Bezahlung übernehmen. Die Beduinen lehnten dankend ab; ihr einziges Eigentum sei ihre Freiheit, und sie wollten nicht an ein Stück Erde und Beton gefesselt sein.

Ein genaues Ziel hatte ich also nicht. Nie im Leben war ich in einer solchen Situation gewesen, und ich hatte nie damit gerechnet, in eine solche zu geraten. Alles war so unerhört rasch gegangen, und ich hatte keinen Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, der Putsch könne scheitern und ich mit dem Leben davonkommen. Sieg oder Tod, das war die Alternative gewesen. 105 Mir war klar, dass ich mein Land vielleicht verlassen musste, und dies erschien mir so aussichtslos wie der Plan einer Reise zum Mond. Ich dachte an die vielen Offiziere, die nach der Skhirat-Revolte ins Ausland flüchten wollten. Sie wurden allesamt festgenommen und hingerichtet.

Es war der 17. August. Ich setzte meine schier endlose Wanderung fort. Zwischen Rabat und Skhirat führt eine der grössten Strassen des Landes auf einer Brücke über einen Fluss unmittelbar nördlich von Skhirat. Ich ahnte, dass die Polizei bei der Brücke Kontrollen durchführte, und beschloss deshalb, den Fluss zwischen Brücke und Mündung zu durchschwimmen. Es gelang mir, obschon ich ein schlechter Schwimmer bin. Schliesslich ging es um Leben und Tod. Bei Skhirat war ich gezwungen, die Küste zu verlassen und den grossen Strassen entlang landeinwärts zu gehen.

Als ich im Begriffe war, die grosse Strasse zwischen Rabat und Casablanca zu überqueren, fiel mein Blick auf einen Mann, der am Strassenrand Trauben feilbot. Ich war sehr hungrig und machte halt, um ein paar Trauben zu kaufen. "Wohin führt denn dieser Weg?" fragte ich und zeigte landeinwärts. "Keine Ahnung; ich bin nicht von hier", erwiderte der Verkäufer. Gerade in diesem Augenblick kam ein Mann auf einem Moped herangefahren, und der Verkäufer meinte, ich solle doch den fragen.

öWas willst du wissen?" fragte der Mopedfahrer. "Ich kenne mich hier nicht aus. Gestern bin ich von Marrakesch nach Rabat gekommen, um einen Freund zu besuchen. Aber er war nicht dort, und darum dachte ich mir, am besten gehe ich nach Marrakesch zurück. Leider hab ich fast kein Geld. Ich fahre per Anhalter oder gehe notfalls zu Fuss.ö öHast du einen Ausweis?" fragte er in hochmütigem Ton. "Nein, den habe ich leider nicht mitgenommen. Ich wusste doch nicht, dass ich ihn brauchen würde."

Der Mann war ein Polizist. Mir wurde himmelangst. Ich bin geliefert, dachte ich mir, versuchte aber, meine Angst so gut wie möglich zu verbergen. "Wo schläfst du denn heute nacht?" bohrte er. "Weiss ich's denn? Vielleicht lädt mich irgendeine gastfreundliche Seele zu sich ein.ö

öDu darfst im Knast schlafen", stellte er mir liebenswürdig in Aussicht und blickte mich scharf an. "Ich kann ja wohl irgendwo übernachten", erwiderte ich. "Ich habe wirklich keine Zeit mehr für dich, Bürschchen", sagte er ganz unerwartet. "Du kannst von Glück reden, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mich um Landstreicher wie dich zu kümmern. Wenn du auf dieser Strasse weitergehst, landest du so oder so im Bau. Dort an der Strassensperre nehmen sie solche Vögel wie dich nämlich bestimmt genauer unter die Lupe."

Wie in allen anderen Polizeistaaten verschafft der Polizistenberuf in Marokko hohe Autorität. Die Polizei jagt den Menschen eine Heidenangst ein. Jeder windige Polizist spielt sich als kleiner Despot auf und betrachtet die gewöhnlichen Sterblichen als eine Art Tiere. Der Traubenverkäufer bekam es mit der Angst zu tun und schenkte dem Bullen die Hälfte seiner Früchte.

Ich machte mich eilends aus dem Staub und folgte der Strasse, auf die ich vorher gezeigt hatte. Nach einer Meile überkam mich abermals die Müdigkeit. Ich dachte mir, die Polizei habe sicher wie üblich an den Ein- und Ausfahrten zu den Städten und den grossen Wohnbezirken Wegsperren errichtet. Am besten versuchte ich wohl, per Anhalter weiterzukommen und vor der nächsten grösseren Stadt, Bouznika, auszusteigen.

Ich ging zur Hauptstrasse und stoppte einen Wagen an, der sich als nichtregistriertes "Privattaxi" erwies. Der Chauffeur nannte den Fahr- preis. "Einverstanden", meinte ich, "aber unter der Bedingung, dass du einen Kilometer vor Bouznika anhältst". "Warum denn das?" wollte er wissen. "Weil ich keinen Ausweis bei mir habe", erklärte ich. Etwa einen Kilometer vor der Stadt bat ich ihn, anzuhalten, aber er wollte nicht hören. Ich wiederholte meine Bitte, stiess jedoch auf taube Ohren. Er fuhr bis zu der von der Polizei errichteten Sperre. In der Schlange vor uns warteten vielleicht zehn Autos. Mein Chauffeur reihte sich nicht in die Schlange ein, sondern fuhr an dieser vorbei direkt zu den Polizisten. Deren Chef geriet in Rage und herrschte ihn an: "Mach bloss, dass du wegkommst, du Blödmann, das nächste Mal wartest du gefälligst wie alle anderen." Der Chauffeur liess sich das nicht zweimal sagen. Ich begreife bis heute nicht, warum sie mich nicht kontrolliert haben. 107 Ohne weiteren Kommentar brachte ich ihn dazu, ins Zentrum von Bouznika zu fahren und mich dort abzusetzen. Von dort aus ging ich sofort in Richtung eines Waldes weiter. Meine Sandalen zerfielen, und ich setzte meinen Weg barfuss fort. Meine Füsse schmerzten, aber ich gönnte mir keine Rast. Es wurde so dunkel, dass ich kaum noch die Hand vor den Augen sah, doch ich hörte das Rauschen des Atlantiks, denn ich war nun wieder nahe bei der Küste.

Ich gab mich allerlei Träumereien hin. Könnte ich doch wie ein Vogel wegfliegen! Jenseits des Atlantiks lockte die Freiheit! Wie sollte ich bloss von hier wegkommen? Nur eine unendliche Wasseröde trennte mich von der Freiheit. Noch heute, nach so vielen Jahren, kehrt dieser Traum bisweilen wieder, und ich flüchte vor der marokkanischen Polizei, die mir dicht auf den Fersen ist. Dieses Erlebnis hat dazu geführt, dass ich alle Grenzen zwischen Ländern und Völkern verabscheue, und ich sehne den Tag herbei, wo diese Grenzen der Vergangenheit angehören.

Das ist natürlich noch eine Utopie. Doch viele heute Wirklichkeit gewordene Menschenrechte waren früher Utopien. Als ich lange nach den hier geschilderten Ereignissen einmal vom schwedischen Dalarna nach Norwegen fuhr, ohne irgendwelchen Grenzpolizisten zu begegnen, war ich richtig glücklich. Ich träume von dem Tag, an dem die Grenzen zwischen den islamischen Ländern verschwinden. Europa ist auf diesem Wege bereits weit fortgeschritten. Alle Zivilisationen, Kulturen und Religionen sollten nach mehr Freiheit und weniger Verboten streben. Ich habe mich stets als Weltenbürger betrachtet und befürworte eine internationale Zusammenarbeit gegen jene Machthaber, die ihre Völker knechten. Schliesslich arbeiten die Diktatoren auch über die Grenzen zusammen, um den Freiheitswillen der Völker in Schach zu halten.

Nach dem gescheiterten Skhirat-Putsch lieferte die algerische Polizei zwei Offiziere, denen die Flucht über die algerische Grenze gelungen war, an Marokko aus. Und auch das ach so demokratische England sandte zwei Offiziere, die mit einem Hubschrauber nach Gibraltar geflohen waren, nach Marokko zurück. Sie wurden später füsiliert, weil sie das Verbrechen begangen hatten, für die Freiheit zu kämpfen.

Die Hunde bellten im Dunkel der Nacht. Ich war todmüde und legte mich auf dem Strand zur Ruhe. Es war recht kalt, und der Sand war etwas feucht. Trotz des andauernden Hundegebells und des Brausens des Atlantiks schlief ich einige Stunden lang tief. Es war immer noch dunkel, als ich erwachte. Ich grübelte abermals über meine Lage nach. Aus dieser Not kann mich nur Gott retten, dachte ich; ich stand auf, obgleich es immer noch finster war, verrichtete mein Morgengebet und flehte zu Gott um Hilfe.

 

Schliesslich, so sagte ich mir, hatte ich als Moslem nur meine Pflicht erfüllt, indem ich mich dem "Jihad" anschloss, ist dieser doch die grösste und bedeutendste Pflicht, die der Koran dem Gläubigen auferlegt. Der islamische Kalender beginnt mit einer Flucht, der Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina, wo er Zuflucht vor seinen Widersachern suchte.

Gottes Gesandte Jesus und Mohammed sind immer meine Vorbilder gewesen. Sie führten ihren Kampf gegen das Böse in einer Welt von Feinden, in der die Kräfte der Finsternis die Oberhand hatten und die breite Masse gleichgültig und passiv war. Die Situation in den heutigen öislamischen" Staaten gleicht in mancher Hinsicht der "Jahilia", jener vom Propheten Mohammed bekämpften korrumpierten und dekadenten Gesellschaft, in der die Menschen Götzen anbeteten. Das Wort "Jahilia" bedeutet "Ignoranz" oder "Obskurantismus".

Schon als Kind, später als Student, Lehrer und schliesslich als Offizier hatte ich einen stetigen Kampf geführt. Dessen Ziel bestand nicht darin, Karriere zu machen und auf Kosten der Armen in die oberen Gesellschaftskreise aufzurücken, sondern darin, das System zu verändern - durch den Kampf gegen Tyrannei und Diktatur, für Freiheit und Gerechtigkeit. Ich entdeckte, dass der Ausdruck öGerechtigkeit" in Marokko eine leere Phrase war. Wer ein Gewissen hatte, konnte sich in einer Gesellschaft nicht glücklich fühlen, die von Strolchen, Narren und Galgenvögeln regiert wurde. Die Hunde, die ich im Dunkel bellen hörte, erinnerten mich an jene Hyänen, die mein Land ausplünderten und nun hinter mir her waren.

 

Im Morgengrauen setzte ich meine Flucht nach Süden fort. Ungefähr um zehn Uhr kam ich nach Mohamedia, eine kleine Stadt an der Küste, nicht allzu weit von Casablanca entfernt. Ich sah wie ein Landstreicher aus. Meine Kleider waren feucht und verschmutzt. Ich begab mich ins Stadtzentrum, um eine Djebella (so heisst das marokkanische Nationalgewand) zu kaufen und um in einem schmierigen Fischrestaurant, das ich in einem Slum entdeckte, einen Imbiss zu mir zu nehmen. Die Leute sassen am Tisch dichtgedrängt nebeneinander, und ich hörte nun, dass man vom "Putsch" sprach. Aufgrund des Polizeiterrors sind die Menschen gezwungen, sich zu verstellen, denn sie fürchten und misstrauen einander und wagen es nicht, über "Politik" zu reden.

In meine Djebella gehüllt, die mir das Aussehen eines jungen Bauernburschen auf dem Weg zum Markt verlieh, setzte ich meine Reise nach Casablanca fort. Es war Abend, als ich dort eintraf. Ich dachte an jenen Tag in meiner Kindheit zurück, als ich das erste Mal nach Casablanca kam: ohne die leisteste Ahnung, wo ich wohnen sollte, rechtlos und einer unbekannten Zukunft ins Gesicht blickend.

Ich ging nun zum Strand, um für die erste Nacht ein Zelt zu mieten. In einem Hotel konnte ich unter keinen Umständen übernachten, denn selbst die erbärmlichsten Kaschemmen standen unter Polizeikontrolle, und zudem hatte ich zuwenig Geld. Verwandte oder Freunde aufzusuchen war mich gleichfalls verwehrt, denn das Risiko war einfach zu gross; die Polizei hatte sicher schon herausgefunden, mit wem ich verwandt und bekannt war, und es war damit zu rechnen, dass sie diese Leute schärfstens überwachte. In Marokko will jedermann bei der Polizei und den Machthabern schön Wetter machen, aber Oppositionelle meidet man wie die Pest.

Als ich zum Strand kam, war es bereits recht spät. Die betreffende Stelle heisst Ain Diab. Ich legte mich einfach nahe beim Meer in den Sand. Dort konnte ich jederzeit verhaftet werden. Bis jetzt hatte ich Glück gehabt, aber ich wusste, dass mein Leben an einem verflucht dünnen Faden hing.

 

 

Einen langfristigen Plan zu entwickeln war sehr schwierig, und zwar vor allem deshalb, weil ich fast mittellos war. Einen Ausweis besass ich auch nicht. Ich musste buchstäblich von Stunde zu Stunde improvisieren. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Perücke, die vier Fünftel meiner Barschaft verschlang. Ich hatte nun nur noch eine minime Summe in der Tasche.

Mit der Perücke auf dem Kopf ging ich dem Strand entlang zu einer Stelle, wo mehrere Felsen beieinanderstehen. Die Stelle liegt südlich von Casablanca und heisst, wie bereits erwähnt, Ain Diab. Tagsüber kann man zu Fuss zu jenen Felsen gelangen, doch in der Nacht steigt das Wasser so, dass sie ein kleines Eiland bilden. Hier würde ich nachts sicher sein, dachte ich. Inmitten der Felsen befand sich das Grab eines öMarabout", eines Heiligen. Man konnte auch Zelte mieten. Dort hatte man bestimmt seine Ruhe vor Polizisten und anderen lästigen Zeitgenossen, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.

Der Schlafplatz im Zelt kostete eine sehr bescheidene Summe, nur ein Vierzigstel dessen, was ich für die Perücke bezahlt hatte. Ich schlief sogleich ein, doch wurde ich jäh aus dem Schlaf gerissen - offenbar gingen da einige Leute von Zelt zu Zelt. Ich hörte, wie sie nach Ausweispapieren fragten. Sie hatten eine Taschenlampe. Was sollte ich nun bloss tun? Wenn ich das Zelt verliess, würden sie mich sofort entdecken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf sie zu warten. Ich nahm mir vor, mich nicht widerstandslos zu ergeben. Ich würde versuchen, einem der Gendarmen die Waffe zu entreissen. Wenn ich ihnen in die Fänge geriet, waren meine Tage gezählt, und mein Tod wurde nach qualvoller Folter erfolgen. Die kriegen mich nicht lebend, schwor ich mir.

Ich hörte, dass sie auf dem Weg zu meinem Zelt waren. Als sie hereintraten, tat ich so, als ob ich schliefe. Sie leuchteten mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Ich hatte die Perücke auf dem Kopf. Wie durch ein Wunder löschten sie die Taschenlampe, schlossen den Zelteingang wieder und gingen zum nächsten Zelt, wo sie wiederum gebieterisch nach Ausweispapieren verlangten. Ich kann mir bis zum heutigen Tage nicht erklären, weswegen sie nicht nach meinen Papieren gefragt haben. Es war Gottes Wille, dachte ich.

Am folgenden Tage kehrte ich ins Zentrum von Casablanca zurück. Zuallererst benötigte ich etwas Geld. Ich beabsichtigte einen Kameraden aufzusuchen; er hiess Mesfioui und war UNFP-Mitglied. Zusammen mit einem anderen Militanten, Omar Ben Jelloun, hatten wir derselben Parteisektion im Quartier Derb Ghalef angehört. Mesfioui war schon zur Kolonialzeit ein bekannter Widerstandskämpfer gewesen. Nachdem ich Offizier geworden war, hatte ich die Verbindung mit ihm verloren. Wir hatten uns seither nur ein einziges Mal bei einer Parteiveranstaltung getroffen, und zwar rein zufällig. Da ich ihn nur als Genossen in einer kleinen Parteisektion kannte, nahm ich an, dass die Behörden nichts von unserer Bekanntschaft wussten. Ich erinnerte mich, dass er im Viertel Maarif in Casablanca wohnte, wo ich einst als Kind gearbeitet hatte.

Als ich ihn aufsuchte, trug ich meine Perücke. Ich klingelte. Ein Kind öffnete die Tür. Ich sagte ihm, ich wolle Mesfioui besuchen. "Wer sind Sie?" fragte das Kind. "Mohamed Alaoui", entgegnete ich. Dies war der Name eines bekannten Journalisten der "oppositionellen" Zeitung Al-Moharir. Ich kannte ihn nicht persönlich, wusste aber, dass Mesfioui in Verbindung mit ihm stand und dass sein Name mir nützlich sein konnte.

Mesfioui kannte mich nicht wieder. Er blickte mich verwundert an. Unaufgefordert trat ich ein, nahm die Perücke ab und stellte mich als Ahmed vor. Dann erzählte ich ihm alles. Er war sehr aufgeregt und verängstigt und sagte: "Du willst mich ins Verderben reissen. Du willst mich ihnen ans Messer liefern. Warum kommst du ausgerechnet zu mir?" fragte er erbittert. "Ich brauche deine Hilfe, ein wenig Geld oder einen guten Rat. Kannst du mir sagen, wie ich mich aus dieser Lage retten kann?" sagte ich. Er dachte eine Weile nach und sagte etwas ruhiger, aber immer noch in gereiztem Ton: "OK, kannst du in einer Stunde zurückkommen?" Ich kehrte nie wieder zu ihm zurück.

Einige Monate später erfuhr ich, dass der König ihn als seinen persönlichen Stellvertreter an irgendeinen Kongress in Beirut geschickt hatte. Vermutlich ging er, sobald ich sein Haus verlassen hatte, gleich zur Polizei und verriet mich dort. Meine Intuition hatte mich nicht im Stich gelassen.

Nun suchte ich einen anderen Bekannten auf, den ich allerdings nicht sehr oft getroffen hatte. Er war Anwalt, tief religiös und grundanständig. Politisch war er nicht aktiv. Er empfing mich sehr freundlich, hatte aber nur eine kleine Summe - 400 Dirham - bei sich. Ich sollte am folgenden Tag wiederkommen, sagte er, dann könne er mir mehr Geld geben. Ich nahm die 400 Dirham, wollte aber nicht wiederkommen.

Abermals ging ich zum Strand hinunter, aber nicht an die gleiche Stelle wie zuvor. Auch dort wurden Zelte vermietet. Doch der Wächter erklärte mir, man könne sie nur tagsüber mieten, nicht für die Nacht. Ich machte ihm weis, ich sei ein mausarmer Student aus Marrakesch und habe nicht genug Geld für ein Hotel. Darauf meinte er, ich dürfe in seinem eigenen Zelt übernachten, das nahe bei seinem Haus aufgestellt war. Ich willigte sofort ein. Er lud mich auch zum Abendessen ein.

Während wir bei Tisch sassen, trat sein Bruder ein. Ich wurde diesem als Student aus Marrakesch vorgestellt, der hier auf Besuch sei. Die beiden Brüder begannen über den "Putschversuch" zu reden, der zu jener Zeit in aller Munde war. Der Bruder erwies sich als Mitglied der Geheimpolizei. Er erzählte, die Gendarmen seien einem Offizier auf den Fersen, der am Putsch beteiligt gewesen und dann "desertiert" sei. öEs gibt in ganz Marokko keinen Bullen, der nicht nach dem Bürschchen Ausschau hält", lachte er.

Ich mischte mich nicht in ihr Gespräch ein, sondern gab ihnen zu verstehen, dass ich mich nicht für Politik interessiere. Als ich mich erhob, um mich auf den Weg zu meinem Zelt zu machen, anerbot mir der Gastgeber, ich könne ein paar Tage bei ihm wohnen, wenn ich wolle. Platz gebe es genug. Ich nahm das Angebot ohne zu Zögern an. Bei einem Polizisten, oder dem Bruder eines Polizisten, zu wohnen, war der beste Schutz, den ich mir denken konnte. Niemand würde da auf den Gedanken kommen, der geflüchtete Offizier könnte letzten Endes ich sein. Mein Gastgeber war Junggeselle und arbeitete als Kriminalinspektor bei der Sicherheitspolizei.

 

 

 

Ich blieb zwei Tage bei ihm. Es galt nur zu verhindern, dass mich jemand erkannte, wenn ich tagsüber draussen in der Stadt war. Ich trug immer noch meine Perücke und liess mir einen Bart wachsen. Nachdem ich mich von dem Polizisten verabschiedet hatte, suchte ich eine Gruppe von Jugendlichen auf, die ein paar Monate zuvor mit mir per Anhalter nach Rabat gefahren waren. Ich wusste, wo sie wohnten, und niemand war über unsere Bekanntschaft unterrichtet.

Es handelte sich um zwei Jungen und drei Mädchen, die während der Sommerferien zusammen wohnten. Abends hatten sie jeweils zahlreiche Besucher. Sie lebten in einer Villa; ihre Eltern waren im Ausland. Alle nannten sich "Maoisten". Das war damals gross in Mode, so wie Jeans und lange Haare. An den Wänden hingen Bilder von Mao Tse Tung und Che Guevara. Was für seltsame Maoisten diese jungen Leute doch waren! Sie nahmen Drogen und haschten fleissig. Die meisten waren verzärtelte Gören, und ihre Eltern hatten Geld wie Heu.

Ich lehnte dankend ab, als sie mir Haschisch anboten. Als ich meine Gebete sprach, verhöhnten sie mich. Sie nannten mich einen öReaktionär". "Religion ist Opium für das Volk", kommentierten sie meine Gebete altklug. Abends führten sie spiritistische Sitzungen durch und vesuchten Gläser mittels Gedankenkraft zu heben. Sie hatten nichts anderes im Kopf als Hokuspokus, Hasch, Schnaps und Wein. Ob ich Mao kenne, wollten sie wissen. "Ja", antwortete ich. "Aber wenn sich der Chinesenmao mit Haschisch abgegeben hätte, wäre ihm seine Revolution nie geglückt."

Ich dachte lange über den geistigen Zustand der marokkanischen Jugend nach. Als sich Mao und Lin Biao in China zerstritten, spalteten sich die Marxisten an der Universität Rabat über Nacht in Maoisten und Linbiaoisten auf. Kam es hingegen in Marokko zum Bruch zwischen Ben Barka und Ben Sedik, war aus China nichts von einem Zwist zwischen Benbarkaisten und Bensedikisten zu hören. Dieses Beispiel zeigt, wie wir in der Dritten Welt von importierten Ideologien abhängen und wie sehr es unseren Linken an Verankerung in unserer eigenen Realität fehlt.

 

 

Unsere linksgerichteten Jugendlichen waren stolz auf die Revolutionen Maos und Castros, doch sie selbst palaverten nur und gaben sich den Freuden des Haschisch hin. Sie waren ideale Objekte für die ideologische Invasion aus dem Westen. Wenn unsere Universitäten und Schulen solche Jugendlichen hervorbringen, ist es wohl besser, die Universitäten und Schulen zu schliessen und eine radikale kulturelle und ideologische Revolution zu entfesseln.

Ich bin wohlverstanden kein Feind der westlichen Kultur und Zivilisation. Doch ehe wir Muselmanen mit dieser friedlich koexistieren können, müssen wir uns auf unsere eigenen Wurzeln besinnen. Was wir von Westen übernehmen, ist nicht das Positive, sondern das Negative, nämlich Schund und Dekadenz. Wir produzieren nicht, sondern konsumieren lediglich. Wir sind nicht die Akteure der Geschichte, sondern deren Objekte. Weder kulturell noch politisch führen wir eine eigene Existenz.

Noch so viele Mao- und Che-Guevara-Bilder an den Wänden und noch so viele gelehrte Bücher können nichts daran ändern, dass die Aktivitäten unserer Linken nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Sie sassen vor ihren Mao- und Guevara-Porträts und bildeten sich ein, sie seien politisch tätig. Wenn sie diese Sturm-und-Drang-Phase glücklich hinter sich gebracht und sich die Hörner abgestossen haben, treten sie dann als Funktionäre in den Dienst des königlichen Palastes und werden bei den Regimeparteien zu "Volksführern".

Ich blieb drei Tage lang bei ihnen. Sie brachten mir bei, wie man neue Jeans so behandelte, dass sie alt und gebraucht aussahen. Dieses Kunststück erreichte man mit Hilfe von Bleichungsmitteln, Metallbürsten und Wasser. Sie waren steinreich, wollten aber gerne wie arme Schlucker wirken. Sie gehörten zu jenem vielleicht einem Prozent der Jugendlichen, denen alle Ausbildungsmöglichkeiten offenstanden, und bereiteten sich auf ihre Aufgabe als revolutionäre Führer über uns elenden Reaktionäre vor. Auf diese Weise bleibt die Macht nach der "Revolution" bei den gleichen Familien und gesellschaftlichen Schichten.

 

 

Ich verliess sie, um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf mich zu ziehen. Doch mein kurzer Aufenhtalt bei ihnen eröffnete mir einen Einblick in die Art und Weise, wie der Marxismus von konservativen Kräften ausgenutzt wird, um die Macht unter anderen Parolen und unter neuer Flagge zu behalten.

Was dann geschah, darf und will ich nicht enthüllen. Ich wohnte an vielen verschiedenen, über das ganze Land verstreuten Orten, und zwar in sehr schweren Verhältnissen. Auch heute gilt es jene zu schützen, die mir damals beigestanden sind, so dass ich keine Einzelheiten verraten darf. Sobald die Umstände es zulassen, werde ich die Ereignisse jener Zeit schriftlich niederlegen.

Bis März 1973 beteiligte ich mich an den Vorbereitungen für verschiedene Guerillaaktionen im Atlasgebirge. Leute vom radikalen Flügel der UNFP hatten sich in kleinen Partisanengruppen zusammen- gefunden, die Überfälle auf die Stützpunkte der Sicherheitskräfte auf dem Lande durchführten. Die erste solche Aktion fand am 3. März 1973 statt, als die Widerstandskämpfer einige Polizeistationen im Mittleren Atlasgebirge angriffen. Das Unternehmen schlug fehl, und 20 Partisanen kamen dabei um. Ich selbst war als ideologischer Berater und Instrukteur in Guerrillataktik tätig. Ich misstraute den UNFP- Führern, weil diese Marxisten waren und leicht von der Polizei infiltriert werden konnten. Für mich war jedes marxistisch-leninistische Regime in Marokko vollkommen unakzeptabel.

Unsere völkische Ideologie, Kultur und Religion ist der Islam. Dieser gewährleistet unsere kulturelle und politische Selbständigkeit. Der Marxismus ist ein Teil der europäischen jüdisch-christlichen Denkweise und Ziviliation. Bei uns führt er nur zu Tragödien, wie etwa die tragischen Beispiele Afghanistans und des Südjemen beweisen. Dort können sich die einheimischen Marxistenregime nur durch ausländische Mililtärhilfe an der Macht halten. Dass die erwähnten Guerrillaaktionen scheiterten, lag daran, dass die bewaffneten Widerstandsgruppierungen von "Marxisten" infiltriert waren, bei denen es sich in Tat und Wahrheit um Polizeispitzel handelte.

 

 

Ich verbarg mich einige Zeit in den Bergen. Die Lage für mich wurde immer gefährlicher, weil mehrere andere Partisanen in Gefangenschaft geraten waren. Zudem wurden die politischen Gegensätze zwischen meinen Kampfgefährten und mir selbst immer schroffer. Der Marxismus war nicht zu Lenins Zeiten in die arabische Welt eingedrungen, sondern erst sehr viel später, zu einem Zeitpunkt, wo die UdSSR imperialistische Expansionspolitik betrieb. Er hatte also recht eigentlich kolonialen Charakter. Seine Apostel waren Missionaren mit ihren Bibeln vergleichbar.

Die Marxisten analysieren nicht etwa die tatsächlichen Probleme auf wissenschaftliche Weise, um Lösungen dafür zu erarbeiten, sondern sie kommen mit fertigen Lösungen und suchen dann angestrengt nach den dazu passenden Problemen. Im Südjemen, in Oman und in der marokkanischen Sahara wittern sie einen "Klassenkampf", obschon dort nur arme Beduinen leben.

Unsere Marxisten sind dumme Papageien. Es mag ja sein, dass der Marxismus in Europa einen organischen Bestandteil der jüdisch- christlichen Kultur und Philosophie darstellt, doch in der arabischen und ganz allgemein der islamischen Welt bilden die Marxisten lediglich einen Teil der kolonialen Invasionsarmee; sie sind, bildlich gesprochen, Soldaten und Missionare. Ohne sich dessen gewahr zu werden, sind sie Werkzeuge eines kulturellen, intellektuellen und philosophischen Imperialismus.

Ich träumte davon, nach Schweden zu fliehen. Nie gingen mir die Worte des Polizeichefs aus dem Sinn, der mich und andere Lehrer wegfuhr, als wir die Auszahlung unserer Löhne verlangten. "Meine Herren, bilden Sie sich denn eigentlich ein, wir seien hier in Schweden?" hatte er gehöhnt. Seit jenem Tage dachte ich an Schweden; ich hatte einiges über das Land gelesen und wollte nun dorthin flüchten und um politisches Asyl bitten, bis sich die Zeiten besserten. Wenn man mich gefangennahm, würde ich auch meine Freunde mit mir in den Abgrund reissen, die immer noch in der Armee dienten; ich würde sie unter der Folter verraten. Auf Wegen, die ich nicht enthüllen darf, glückte es mir, via Paris nach Schweden zu gelangen.

 

 

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1. Vorwort des Übersetzers

2.
Vorwort des Verfassers

3.
Meine Heimat

4.
Die ersten Jugendjahre

5.
Der Neokolonialismus

6.
Ein junger Freiheitskämpfer

7.
Die erste Revolte

8.
General Oufkir

9.
Neue Pläne für eine Revolte

10.
Ein misslungener Staatsstreich

11.
Die Flucht

12.
Das Schicksal General Dlimis

13.
Der König ist nackt !

14.
Warum das Militär ?

15.
Die islamische Welt

16.
In Schweden


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United We Stand, Divided We Fall.
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